Februar 2021 (Ägypten verstehen)

 

Des Öfteren haben wir in unserem Blog versucht, die Eigenarten als auch das Liebenswerte von Ägypten mit eigenen Worten zu erläutern. Jedoch hat es aus unserer Sicht kaum jemand besser beschrieben als Susanne Petrin, freie Journalistin, mit einem Beitrag in der Neuen Züricher Zeitung (den entsprechenden Link haben wir am Ende aufgeführt). Aufschlussreich, witzig und mit köstlichen Beispielen schafft sie es, dass etwas andere Leben in diesem Land perfekt darzustellen. Da wir uns natürlich nicht mit fremden Lorbeeren schmücken wollen, zitieren wir den Bericht in eingekürzter Form und ergänzen ihn nur um eigene Fotos. Wir hoffen, Ihr könnt beim Lesen manchmal genauso schmunzeln wie wir!

   



 

Tourismus und Wirtschaft sind am Boden, fast ein Drittel der Ägypter lebt unter der Armutsgrenze, das Regime ist repressiver denn je. Und dennoch ist ihnen das Lachen nicht vergangen.  Das letzte antike Weltwunder, der weitläufigste Markt des Nahen Ostens, der längste Fluss der Welt, zwei Meere, endlose Wüste, Dutzende von Gräbern, Tempeln, Schätzen – alles schön und gut. Aber wirklich auf seine Kosten kommt in Ägypten, wer absurden Humor zu schätzen weiss, wer bizarre Situationen geniessen kann. Eine andere Alliteration hängt mit diesem Umstand zusammen: «Kurz vor dem Kollaps.» Kaum ein anderes Land wurde in den ausländischen Medien schon so oft mit dieser Schlagzeile bedacht. Abwechslungsweise sind es die ägyptische Wirtschaft, der Verkehr oder das Land an sich, die kurz vor dem Kollaps stehen sollen. Jedes Jahr wächst die Bevölkerungszahl derzeit um 2,5 Millionen Einwohnern an. Lebten Mitte des 20. Jahrhunderts noch gegen 19 Millionen Menschen in Ägypten, wurde Anfang 2020 die 100-Millionen-Marke überschritten. Anderseits sind nur rund 6 Prozent des Landes frucht- und bewohnbar. Eine solche Gleichgewichtsstörung brächte noch das reichste Land der Welt zum Straucheln. Doch in Ägypten geht es immer irgendwie weiter.

 



 

Die Ägypter selbst wissen die Absurdität ihrer Lage in stets neue Witze zu verpacken. Humor ist ihre wichtigste Überlebensstrategie; er ist das Seil, an dem sie sich einen Abgrund entlanghangeln. Und das ist vielleicht das grösste Wunder: dass in einem Land, in dem es für die meisten so wenig zu lachen gibt, so viel gelacht wird. Wie schaffen es die Menschen, gerade auch diejenigen im von der Revolution und dem Coronavirus gebeutelten Tourismussektor, stets fröhlich zu wirken? «Wenn sie nicht lächelten und Witze rissen, wäre es gar nicht zum Aushalten», antwortet ein Ägyptologe, der als Guide arbeitet. Es gibt kaum einen Taxifahrer, kaum einen Handwerker oder einen Kellner, mit dem man nicht scherzen kann. Nur in Ägypten steige ich im dichten Smog mit der Atemschutzmaske ins Taxi – und der Fahrer bietet mir eine Zigarette an. Ihre humorvolle Haltung, aller Unbill zum Trotz, macht die Ägypter zu Helden. Allerdings tragen sie selbst auch jederzeit dazu bei, dass ihr Alltag bis in seine äussersten Verästelungen ein absurdes Theater bleibt.

 



 

Unser Brotbrett war kaputt. Holzlatten, durch deren Zwischenräume die Krümel in eine Schachtel fallen konnten. Eine Latte war abgebrochen. Weil ägyptisches Handwerk sehr günstig – und oft gut – ist, baten wir einen Tischler, dieses clevere Schweizer Design doch bitte zu kopieren. Das tat er denn auch. Ganz exakt. So exakt, dass er das abgebrochene Stück mit imitierte. Jetzt haben wir ein altes und ein neues Brotbrett. Beide sind kaputt. Ein Beispiel von tausend und einem, wie wir sie täglich erleben oder erzählt bekommen. Der Elektriker, der alle Geräte unter Strom setzt. Der Maler, der die Farbe vergessen hat. Der Zimmerer, der ein Loch in der Wand mit zerknülltem Zeitungspapier stopft. Der Schreiner, der ein schiefes Bücherregal liefert – aber darauf beharrt, es sei doch gerade genug. Der Reparateur, der eine kaputte Kaffeemaschine lange traurig anschaut und wieder heimgeht. Nach einem starken Regenfall ging das Video einer Frau viral, durch deren Steckdose Wasserfluten in die Wohnung einbrachen. Das war dann sogar für Kairoer ein Extremfall. Sonst ist man das Marode gewohnt. «Achte nicht auf die Feinheiten», riet eine Freundin gleich zu Beginn, «darin sind wir nicht gut.»

 



 

Ägyptische Infrastruktur besteht aus Schlaglöchern, Wackelkontakten, Sollbruchstellen. Man mogelt sich durch. Und wem beim Flicken das Know-how fehlt, der bedient sich der Phantasie. Das Türschloss im Hotelzimmer ist kaputt? Vielleicht hilft es, Raumspray ins Loch zu sprühen! Coronavirus? Noch etwas intensiver beten, etwas mehr Knoblauch essen und noch mehr Zitrone auf alle Speisen pressen! Geht etwas schief, so ist nie ein Anwesender schuld. Eher waren übernatürliche Kräfte am Werk. Ein «grosser Vogel» hat so manche Pflanze auf unserem Balkon zerstört, nicht unsere Putzfrau. Der grosse Vogel scheint auch des Öfteren in unsere Wohnung eingedrungen zu sein. Die ägyptischen Arbeiter schaffen es am Ende mit ihrer Liebenswürdigkeit und ihrem schauspielerischen Geschick, dass man ihnen sogar ein grosszügiges Trinkgeld gibt, wenn sie den Schaden vergrössert statt verkleinert haben. Handkehrum sind die Ägypter nicht nur sich selber, sondern auch anderen gegenüber grossherzig und pragmatisch. Gerade kein Geld dabei? Nimm die Ware mit und zahle morgen! Eine Stunde zu spät dran? Malesh, Pech, passiert uns dauernd.

 



 

Es ist zudem so verpönt wie sinnlos, jemanden für ein Malheur direkt zu kritisieren oder zur Verantwortung zu ziehen. Das Schlimmste wäre, laut zu werden oder auf eine andere Art die Contenance zu verlieren. Ähnlich wie in asiatischen Ländern gilt es, das Gesicht zu wahren – das eigene und das fremde. Auf dem Markt von Assuan hat ein Händler uns das Siebenfache des üblichen Preises abgeluchst. Als wir am Steg auf unser Hotelboot warteten, verglichen wir unseren Einkauf mit demjenigen ägyptischer Reisender. So flog der Schwindel auf. Doch ein Familienvater fühlte dermassen mit uns, dass er sich anbot, gemeinsam zurück zu diesem Händler zu gehen. Dort, riet er, dürften wir nicht schimpfen oder gar das hässliche Wort «Betrug» benutzen, denn dieses blockiere jeden Ausweg. Stattdessen sollten wir Folgendes erzählen: Freunde von uns hätten überraschenderweise genau dieselben Waren bereits für uns gekauft; wir brauchten sie nun doch nicht. Unser neuer ägyptischer Freund stand mit verschränkten Armen neben uns, während wir die Geschichte zum Besten gaben; der Händler wusste, was wirklich Sache war, tat aber so, als glaubte er uns. Anstandslos nahm er die Waren zurück und rückte das Geld heraus. Und so folgte auf die unangenehme Erfahrung, etwas arg übers Ohr gehauen worden zu sein, die schöne von der einheimischen Hilfsbereitschaft. 

 



 

Und Letztere wog Erstere ums Siebenfache auf. Dieserart geht es in Ägypten bei fast jedem Ärgernis: Der Uber-Fahrer hat sich schon dreimal verfahren, dafür hält er an einem Kiosk an, um uns übersüsste Säfte zu reichen. Die Wartezeit auf dem Amt dehnt sich ins Unendliche, dafür liest ein Anwesender Gedichte vor. Die wenigsten der 100 Millionen Einwohner werden direkt etwas von den dunkelen Seiten des Landes mitbekommen, Touristen schon gar nicht. Ihnen sind das herzlichste Willkommen und das schönste Lächeln vorbehalten – und sei es mitunter, der Not geschuldet, auf den Stockzähnen. Die Menschen geben einem stets ein Gefühl der Leichtigkeit, wo geradeso gut Schwermut herrschen könnte. Im Ausland berichten Medien fast nur Negatives, im Inland nur Positives über Ägypten. Auch diese Diskrepanz wirkt paradox. Wie überall gibt es hier Gutes wie Schlechtes. Mit Sicherheit hätten die Ägypterinnen und Ägypter etwas Besseres verdient. Wer das Land besucht, rettet Existenzen und bekommt Weltwunder garantiert. Und wer sich über kleine Missgeschicke zu freuen statt zu ärgern vermag, der wird dazu um viele kleine und grössere Abenteuer bereichert!